Ohnmacht
- Courage
- 1. Mai 2020
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Mai 2020
Habt ihr euch jemals gefragt, was der Begriff eigentlich bedeutet?
Vor ein paar Jahren hätte ich Ohnmacht als Zustand der völligen Bewusstlosigkeit beschrieben. Eine Lage in der sich der Körper im „Knock out“ befindet. Man fällt um, ist für ein paar Minuten abwesend und wacht danach auf und weiss nicht mehr genau was passiert ist.
Heute ist Ohnmacht für mich ein viel weitgehenderes Gefühl, dass sich nicht ausschliesslich durch den Körper, sondern auch durch den Geist bemerkbar macht. Es waren ganze 2 Jahre, in denen ich mich in diesem Zustand befand.
Ich habe durch meine Erfahrungen festgestellt, dass es unterschiedliche Auslöser gibt, die dir dieses Gefühl geben. Ein unbefriedigender Job, eine Energie raubende Freundschaft, der Verlust einer Person, Stresssituationen in der Ausbildung, oder die Ansprüche in der Familie. Leider versuchen sich Menschen immer zu vergleichen. Hier heisst das, man misst seine schmerzliche Erfahrung an derer Anderer. Im schlimmsten Fall bagatellisiert man seine eigene Erfahrung, weil es immer eine Situation gibt, die angeblich schlimmer ist. Warum machen wir das? Auch ich habe das gemacht und ertappe mich immer wieder, wie es mir passiert. Allerdings bin ich heute überzeugt davon, dass sowohl die Erfahrungen, wie auch die seelische Verletzlichkeit von Person zu Person unterschiedlich ist. Jeder hat seine Geschichte, deshalb unterschätzt niemals euren Schmerz, nur weil ihr denkt Anderen geht es schlechter. Nehmt Euch wahr und ernst!
Es fällt mir ehrlich gesagt schwer zu definieren zu welchem Zeitpunkt sich das Gefühl bei mir anbahnte. Im Nachhinein muss ich gestehen, es ist ein Gefühl, dass schon lange in mir schlummerte. Allerdings bin ich zum Entschluss gekommen, dass es der erste Job nach dem Studium war der vieles ins Rollen brachte.
Erlöst und befreit von allen Prüfungssituationen, habe ich mit viel Elan und Motivation auf die Stellensuche gemacht. Es ging schnell und ich wurde fündig. Es ging aber leider auch etwa gleich schnell, bis ich mich in meiner Situation nicht mehr wohl gefühlt habe. Die strukturellen Umstände in der Firma haben sich so verändert, dass ich einen neuen Vorgesetzten bekommen habe. Mein Bauchgefühl hat sich damals schon bemerkbar gemacht. Ich mochte ihn nicht. Einen Grund konnte ich nicht geben, deshalb habe ich auch nicht weiter darauf gehört. Trotzdem hatte meine berufliche Situation einen grossen Einfluss auf meinen Gemütszustand. Natürlich konnte ich es damals nicht einordnen, warum ich mich so gefühlt habe. Ich bemerkte einfach, wie ich von Tag zu Tag erschöpfter war. Meine Motivation schwand langsam und mein Appetit wurde auch täglich kleiner.
Unwissend, woher das alles kam, versuchte ich im Büro trotzdem das Beste zu geben. Ich wollte mich beweisen und meine Stärken einbringen. Aber es funktionierte nicht. Zugegeben ich bin selbst mein grösster Kritiker. Wenn etwas nicht klappt, dann suche ich den "Fehler" immer bei mir. Ich hinterfrage immer zuerst mich, oder eben NUR mich. Immer mit der Begründung, dass man ja nur sich selbst ändern kann. Dieses Hinterfragen und Anpassen braucht aber enorm viel Energie und deswegen kam ich irgendwann an mein Limit, wo ich nicht mehr wusste was Ich selbst ändern kann. Mich beschäftigten täglich enormen Selbstzweifel. Meine Arbeit war nie gut genug, sie war für niemanden wirklich relevant, oder sie machte einfach keinen Spass. Es gab viele Kollegen aus anderen Abteilungen, die mich mochten und mir Mut zugesprochen haben. Das wiederum aktivierten aber wieder meinen Kritiker. "Es liegt an dir, wenn du nur ..., dann kommt alles gut." Leider kam es nie dazu. Auch eine Aussprache mit dem Vorgesetzten brachte alles andere als Besserung.
Um es kurz zu machen, das Ganze ging so aus, dass ich irgendwann keinen Ausweg mehr sah und kündigte. Keinen neuen Job, keine Kraft und viele Selbstzweifel.
Dazu muss ich sagen, dass ich mich zur selben Zeit auch in anderen Lebensbereichen in einer ähnlichen Situation befand. In der Familie war ich immer die Starke, die am Ende alles alleine meisterte. Wie ich mich allerdings bei meinen Bemühungen gefühlt habe, das stand nie im Vordergrund. Die Aufmerksamkeit schenkte man meinem Bruder, denn bei ihm hat nicht immer alles geklappt. Von klein auf trainierte ich mir also den folgenden Glaubenssatz an: "Du musst nur mehr geben, damit du gesehen wirst. "Dieses Motto nahm ich auch mit in meine Liebesbeziehung. Ich habe gegeben, mich angepasst, Geduld aufgebracht und Verständnis gezeigt. Aber ich musste immer wieder feststellen, dass der ganze Aufwand, die Energie und die Liebe, die ich in die Beziehung gesteckt habe, nicht zurückkommt und nicht wertgeschätzt wird. Auch da habe ich den Fehler immer nur bei mir gesucht. "Vielleicht verlange ich zu viel, vielleicht habe ich etwas falsches gesagt, oder vielleicht war ich zu verschlossen." Nie habe ich mir überlegt, inwiefern dass Gegenüber auch seinen Teil dazu beiträgt.
Ihr sieht, ich war in verschiedenen Lebensbereichen konfrontiert mit vielen Selbstzweifel und der Überzeugung nicht zu genügen. Auch meine Freunde versuchten mich zu unterstützen und mir Ratschläge zu geben, was ich besser machen kann. Einige sagten auch ich solle die Beziehung beenden, die tue mir nicht gut. Dies war nichts Neues. Alles Gedanken, die mir selbst im Kopf herumschwirrten, aber eine Entscheidung konnte ich einfach nicht treffen. Ich hatte einfach das Gefühl, keiner kann mich verstehen und deswegen kann keiner mir die richtige Entscheidung abnehmen. Ich konnte Nichts mehr klar sehen. Meine Beziehungen blieben alle unbefriedigend, anstrengend und kopflastig.
Verstanden habe ich es erst, als ich eines Tages einfach von einem geliebten Menschen wortwörtlich von einem Tag auf den anderen, fallen gelassen und ersetzt wurde. Die ersehnte Entscheidung nach der ich so lange suchte, wurde mir wie eine Ohrfeige plötzlich und unerwartet um die Ohren gehauen. Nach 1.5 Jahren heiss/kalt Beziehung, in der ich nie ein klares Statement bekam, warum ich nicht genügte, oder warum es nicht funktionieren kann, war einfach alles innerhalb von 45minuten abgeschlossen. Mein grösster Wunsch einfach von diesem einen Menschen gesehen zu werden, war ausgeträumt. Und wie: ohne Vorwarnung, ohne Erklärung und ohne ein Zeichen von Wertschätzung für das was war. Ich konnte nichts mehr tun. Ich war für ihn gestorben und es gab jemand anderen, der alles was ich mir gewünscht habe nun vermeindlich bekam. Ich konnte nicht mal mehr kämpfen. Ich war völlig Ohne Macht in dieser Situation.
Dieser Schmerz ist nicht zu erklären, aber er war das Schlüsselerlebnis, dass mich zu einer sehr wertvollen Erkenntnis gebracht hat. Es führte dazu, dass ich Ohnmacht heute ganz anders definiere und als Gefühl wahrnehme, dass ich leider zu lange in meinem Leben erfahren durfte.
Ich brauche hier absichtlich das Verb "durfte". Heute weiss ich nämlich: Ich habe absolut gar nichts falsch gemacht. Ich habe alles versucht, gesehen zu werden, meine gesamte Energie aufgeopfert und mich geöffnet. Mich Personen anvertraut und mich verletzlich gezeigt. Das ist eigentlich eine schöne und vor allem starke Eigenschaft. Nur leider waren es immer Personen, die mit diesem Vertrauen nicht umgehen konnten. Ich hätte alles Mögliche tun können, es hätte absolut Nichts geändert. Ich hätte der perfekte Mensch sein können, es hätte nicht gereicht.
Heute bin ich überzeugt davon: das Leben musste mich auf diese schmerzliche Art und Weise damit konfrontieren, dass auch ich mal den "Fehler" nicht bei mir suchen muss. Denn nur durch diesen Schmerz, konnte ich endlich einsehen, dass ich für manche Menschen nicht gut genug erscheine, aber trotzdem gut genug bin! Heute glaube ich, diese 2 Jahre, waren ein Zeichen vom Leben, dass ich einfach an mich glauben sollte und für mich einstehen darf, ohne gleich egozentrisch zu sein.
Denn es gibt Menschen, die können dich nicht sehen. Deren Grund mag unterschiedlich sein und manchmal sogar absolut unverständlich und absurd. Aber solche Beziehungen, egal auf welcher Ebene, sie führen dich in diese unerklärliche Situation. In eine Lage in der du dich komplett Ohne Macht fühlst. Es ist eines der schlimmsten Gefühle, weil es dich gleichzeitig an deinem Wert und deinen Fähigkeiten zweifeln lässt. Du fühlst dich, als wäre dein ganzer Körper erstarrt. Du kannst die einfachsten Entscheidungen nicht mehr treffen, weil du dich immer wieder fragst, was überhaupt richtig ist. Ich würde sogar so weit gehen, dass du nicht mehr weisst wer du bist. Du erkennst dich nicht wieder. Es bleibt einfach alles einmal stehen. Eben MACHT LOS!
Ohnmacht hat heute also eine viel tiefgreifendere Bedeutung für mich als früher. Es ist ein Zustand, den ich heute dank meiner Erfahrungen schneller erkennen kann und vor allem einen Namen dafür habe. Heute weiss ich, das Leben lässt uns manchmal ohnmächtig fühlen. Allerdings weiss ich heute auch, es hat absolut nicht mit mir zu tun. Ich bin nicht falsch oder nicht gut genug. Ich befinde mich nur gerade am „falschen“ Ort und in „falscher“ Gesellschaft. Diese Erkenntnis gibt mir die Macht zurück, mich von solchen Menschen und Orten zu entfernen. Denn das Wort hat nicht ganz recht. Wir sind nicht "Ohne Macht". Wir fühlen uns nur so. Das heisst, wir haben jederzeit die Möglichkeit aus solchen Beziehungen auszusteigen. Denn nur so werden wir dieses Gefühl los.
Ich rate hier niemandem einfach wegzurennen, wenn es mal schwierig wird. Ich hoffe allerdings, dass die Menschen, die Selbst ihr grösster Kritiker sind nun genau wissen was ich mit Ohnmachtsgefühl meine. Und an diese Menschen geht mein Appell:
Sparen wir uns die Energie, die Lebensfreude und unsere Hilfsbereitschaft für Menschen auf, die unseren Schwächen wahrnehmen, aber sie genauso wie unsere Stärken schätzen. Von Menschen, die unsere Eigenschaften bewundern und uns als liebenswert erachten. Von Menschen, die uns sehen wollen und mit denen wir uns gemeinsam weiterentwickeln können.
Von einer Gesellschaft die uns glauben lässt, dass Ohnmacht lediglich ein kurzfristiger „Knock out“ Zustand des Körpers ist. Denn sind wir mal ehrlich, wie oft kommt das wirklich vor?
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